Nucleus Torn Interview

Die 1997 gegründeten Nucleus Torn haben eine beachtliche Entwicklung durchgemacht und diese gleichsam zu ihrem Ziel erklärt. Weder Genregrenzen noch zu erreichende Verkaufszahlen beeinträchtigen ihre kreative Arbeit. Beim Wechsel vom schweizer Heimatlabel Kunsthall zu Grau/Prophecy Productions haben sie sich Entscheidungsrechte vorbehalten und so ihren künstlerischen Freiraum gewahrt. Auch über (leise) Konzerte wird schon laut gedacht, kurzum es ist höchste Zeit mal mit Fredy Schnyder, dem Kopf der Gruppe, über die Band zu sprechen.

Hallo Fredy, nutzen wir den Auftakt, um den Lesern Nucleus Torn kurz vorzustellen.

FS: Nucleus Torn ist ein Septett aus der Schweiz. Wir kombinieren die Wucht einer avantgardistischen Rock-/Metal-Band mit den Klängen eines klassischen Kammermusikensembles. Charakteristisch sind unsere komplexen, stilistisch vielschichtigen Kompositionen und ihre grosse Dynamik – unsere Musik schweigt, singt und schreit. Von unseren Veröffentlichungen hervorzuheben sind die beiden Alben ‚Nihil‘ und ‚Knell‘, die 2006 bzw. 2008 von Prophecy veröffentlicht wurden.

Handelt es sich bei Nucleus Torn um eine Band, in die du viel investierst oder ist es ein Projekt, das Du um ergänzende Kräfte erweiterst?

FS: Primär handelt es sich um das Letztere. Allerdings sind die „ergänzenden Kräfte“ seit mehreren Jahren die Gleichen geblieben.
Dies ist insofern wichtig für mich, weil ich weiss, welche Klänge ich verwenden kann. Mittlerweile sind meine Arrangements klar auf die Musiker zugeschnitten, mit denen ich arbeite. Obwohl es sich bei Nucleus Torn nicht um eine Band handelt, haben wir ein stabiles Line-Up und einen Ensemble-Sound mit Wiedererkennungswert.

Eure Entwicklung von Silver bis Knell ist enorm. Gibt es ein Gesamtkonzept vor dem Nucleus Torn zu sehen ist, oder erfindet Ihr euch immer wieder neu?

FS: Ich denke, dass beides in einem gewissen Ausmass zutrifft. Das Gesamtkonzept von Nucleus Torn sieht vor, dass es keine zwei Songs oder Alben gibt, die sich übermässig ähneln. Dieses „sich neu erfinden“ hat demnach Programm. Allerdings steckt dahinter nicht nur Plan, sondern auch Zufall und Spontaneität. Wichtig erscheint mir vor allem, dass ich mir bei Nucleus Torn erlaube, meinem Instinkt zu folgen, wenn es darum geht, eine neue musikalische Richtung einzuschlagen. Beispielsweise arbeitete ich in einer ersten Phase alleine, daraus resultierte ‚Krähenkönigin‘, ein Werk für klassische Gitarre. Danach hatte ich Lust, mit Gesang und Rockinstrumenten zu arbeiten, zudem wollte ich meine Vorliebe für Progressive Rock und Folk ins Spiel bringen und klassische Instrumente einsetzen. Im Endeffekt erfolgte damit der Schritt zum heutigen Line-Up und zur Verknüpfung von Musikstilen und Klangbildern auf dem Album ‚Nihil‘, die normalerweise als miteinander unvereinbar betrachtet werden. Ich liess also meinen Musikgeschmack die stilistische Ausrichtung von Nucleus Torn bestimmen. Meines Erachtens muss alles, was mir gefällt, Platz in Nucleus Torn haben, Standardschemata dürfen dies nicht einschränken.

Die Alben Nihil, Knell und Andromeda Awaiting bilden, so hörte ich, eine Trilogie. Kannst Du uns den inhaltlichen Zusammenhang der Werke erläutern?

FS: Je länger, je schwieriger wird es für mich, Fragen über dieses Konzept zu beantworten, weil ein solches Konzept immer auch eine persönliche Komponente beinhaltet, selbst wenn man dies als Künstler zum Teil nicht mal richtig wahrhaben will. Momentan ist es mir lieber, keine detaillierten Antworten zu geben, deshalb beschränke ich mich im Folgenden auf die Entstehungsgeschichte des Konzepts. Die Idee mit der Trilogie ergab sich, weil ‚Nihil‘ mich nicht „loslassen“ wollte. Aus lauter Fragmenten sowohl textlicher wie auch musikalischer Natur ergab sich eine Story mit allen wichtigen Elementen von Liebe bis Tod (ich schreibe dies nicht ohne Augenzwinkern). ‚Knell‘ widmete sich einer Wanderung durch eine Welt, in der sich die Natur gegen den Menschen verschworen hat, einer Suche nach verlorenem Glück und Sinn gewissermassen, die über die Grenzen des Erträglichen und auch über die Grenzen dieser Welt hinausgeht.
Von ‚Andromeda Awaiting‘ erhoffte ich, an ein Ende dieser Suche zu kommen und im musikalischen Sinne herauszufinden, was das Ziel dieser Reise war. Ich liess mich beim Komponieren treiben und die Musik entscheiden, welches Ende die Geschichte nimmt. Das Resultat möchte ich aber nicht weiter beschreiben, schliesslich soll das Album noch ein paar Überraschungen bereit halten.

Du bist klassisch ausgebildeter Musiker, welchen Einfluss hat dies auf das Arrangement der Lieder?

FS: Nucleus Torn verwenden keine simple Rockarrangements. Statt Powercords streben wir eine komplexe Harmonik an, statt Riffs aneinander zu reihen, verarbeiten wir Themen, statt permanent mit voller Lautstärke die Ohren unserer Hörer zu behämmern, interessieren wir uns für Dynamik sowohl hinsichtlich Klangdichte wie auch Emotionalität. Ebenfalls ziehen wir Klänge mit ein, die in der Rockmusik kaum zu hören sind, oder zumindest nicht mit der Prominenz wie bei Nucleus Torn. Die klassischen und folkloristischen Instrumente sind bei uns nicht ein Gimmick, sondern elementarer Bestandteil unseres Gesamtsounds und insgesamt mindestens genau so wichtig wie die Rockpower.

Als Konsument und Nichtmusiker genieße ich auch den rohen und primitiven Black Metal. Wieviel Freude kann man an diesem haben, wenn man merkt wie einfach und z.T. fehlerhaft einige dieser Songs sind?

FS: Auch ich mag mehrere Veröffentlichungen in diesem Bereich, als Musiker muss man sich nicht notwendigerweise an den von Dir genannten „Unvollkommenheiten“ stören. Das Faszinierende ist doch gerade, wie die grossen Black Metal Klassiker eine Magie verströmen, die überhaupt nichts mit technischem oder kompositorischem Können (im „klassischen“, i.e. akademischen Sinne) oder tontechnischer Perfektion gemein hat. Die Wirkung von Musik kann zum Glück weder wissenschaftlich beschrieben noch reproduziert werden. Ein wenig Zauber ist der Kunst geblieben, und Black Metal vermag dies zu beweisen.

Die LP-Version von Nihil erschien über Nachtgnosis und sehr ansprechend gestaltet. Wie wichtig ist Dir das Layout in Sinne eines Albums als Gesamtkunstwerk?

FS: Von grösster Wichtigkeit, ich habe auch die alleinige Kontrolle über die ästhetische Gestaltung unserer Artworks in meiner Hand behalten. Für mich hat der physische Tonträger nachwievor eine grosse emotionale Bedeutung, ein Album reduziert auf Bits und Bytes funktioniert für mich einfach nicht.

Ihr seid inzwischen seit einiger Zeit bei Prophecy unter Vertrag, seid Ihr zufrieden mit der Labelarbeit?

FS: Ja, auf jeden Fall. Wir kriegen eine professionelle Vermarktung, professionellen Vertrieb und pflegen überdies einen sehr angenehmen persönlichen Kontakt weit jenseits einer distanzierten Geschäftsbeziehung.

Andromeda Awaiting – Der Kosmos und die Schweiz, wie stehst Du zu Bands wie Paysage D’Hiver und Darkspace?

FS: Wir sind miteinander befreundet, ebenfalls bin ich im tontechnischen Bereich an ihren Alben beteiligt. Ich persönlich finde es beeindruckend, welche Ausstrahlung ihre Werke auf die internationale Metal-Landschaft haben. Bern ist kreatives Niemandsland, doch wenn Darkspace zur CD-Taufe rufen, reisen Hunderte Menschen aus ganz Europa an. Damit ist das Wichtigste eigentlich gesagt.
Apropos Kosmos: Ich spiele auch auf dem nächsten Klabautamann Album ‚Merkur‘. Die Reise ins Unendliche geht also auf verschiedenen Ebenen weiter.

Wie schätzt Du den Einfluss der Schweizer Szene (wenn es die gibt) ein?

FS: Wahrscheinlich gibt es schon „Szenen“ in der Schweiz, sowohl für Metal verschiedener Schattierungen wie auch für Progressive Rock usw. Mangels persönlichen Kontakten bin ich aber nicht in der Lage, hier näher Auskunft zu geben. Nucleus Torn wird sicherlich nicht übermässig von anderen Schweizer Künstlern beeinflusst.

Das Andromeda Awaiting Album soll dieses Jahr erscheinen, wird der eher sperrige Weg von Knell weitergeführt oder erwartet uns ein eingängigeres Werk?

FS: Eine kleine Korrektur vorweg: ‚Andromeda Awaiting‘ erscheint höchstwahrscheinlich erst 2010. Nun zurück zu Deiner Frage. Ich denke, dass es ganz auf den Geschmack des Hörers darauf ankommt, ob er/sie das nächste Album eingängiger finden wird als ‚Knell‘. Aus meiner Sicht ist ‚Andromeda Awaiting‘ ein sehr zugängliches Album, dies finden auch meine Mitmusiker. Die Stimmung ist sehr verträumt und melancholisch, stellenweise auch resigniert. Wir haben völlig auf Metal-Elemente verzichtet, ebenfalls fehlen die abrupten Brüche in der musikalischen Textur, die ‚Knell‘ so sehr geprägt haben, stattdessen fokussieren wir auf den Wechsel von Licht und Schatten und das Spiel mit Klangfarben. Wer weiss, vielleicht wird es Leute geben, die ‚Andromeda Awaiting‘ deshalb langweilig finden,
obwohl dynamisch genau so grosse Bögen wie auf ‚Knell‘ gespannt werden und der stilistische Abwechslungsreichtum sicherlich grösser ist. Daher erwarte ich, dass ‚Andromeda Awaiting‘ ähnlich polarisieren wird wie die Vorgängeralben – und das ist gut so.

Nucleus Torn beinhaltet immer auch Passagen aus dem Bereich der klassischen Musik und dem Folk. Welche Künstler beeindrucken Dich aus diesen Genres.

FS: Im Bereich Folk fasse mich kurz und nenne nur Garmarna und L’Ham de Foc als Beispiele. Allzu traditioneller Folk interessiert mich eher weniger. Auch bezüglich klassischer Musik kann ich nur ein paar Einflüsse näher bestimmen, eigentlich wäre die Liste unendlich lang. Früher hätte ich z. B. die Namen Bartok, Ravel und Schnittke genannt, momentan begeistere ich mich aber eher für frühbarocke Musik, insbesondere den italienischen Komponisten Dario Castello.

Welche Künstler beeinflussen oder interessieren Dich darüber hinaus?

FS: Ich würde es als langweilig erachten, hier das übliche Name-Dropping zu starten. Mein Interesse umfasst neben Klassik, Jazz und Folk auch alle möglichen Bereiche der Rockmusik. Auf meinem Schallplattenspieler dreht sich Verschiedenstes von 70es Progressive Rock, Alternative, Pop bis zu Metal aller Schattierungen. Momentan läuft gerade ‚Crack the Skye‘ von Mastodon. Ich denke nicht, dass ich Scheuklappen habe; was gefällt, gefällt.

Kennst Du Christian Krachts „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“?

FS: Leider nein.

Wäre für Nucleus Torn eine ähnliche Entwicklung wie bei Ulver denkbar oder weniger extrem, wie sieht es mit elektronischen Einflüssen und Deinem
Interesse an elektronischer Musik aus?

FS: Ich schätze Ulver enorm, insbesondere die Wandlungsfähigkeit der Band (bzw. Trickster-Gs). Bei Nucleus Torn werden Elektronika aber wohl kaum Einzug halten, dazu kenne ich mich zu wenig in diesem Bereich aus. Mein Interesse gilt primär akustischen Instrumenten. Ehrlich gesagt höre ich selten elektronische Musik, obwohl mich Klangwelten wie diejenigen der heutigen Ulver, Radiohead oder den bereits oben genannten Garmarna faszinieren.

Auch wenn die Umsetzung nicht ganz leicht wäre, wie wahrscheinlich ist es Nucleus Torn einmal live in Deutschland sehen zu können?

FS: Es bestanden tatsächlich Pläne, Nucleus Torn auf die Bühne zu bringen, und zwar als akustisches Quartett. Es fanden auch Rehearsals statt, doch momentan können wir leider nicht mehr an der Live-Umsetzung von unserer Musik arbeiten. Das kann sich jedoch ändern, die Pause ist privat und beruflich begründet. Dafür arbeiten wir intensiv an ‚Andromeda Awaiting‘.

Vielen Dank für das Gespräch, die letzten Worte gehören Dir…

FS: Auch ich bedanke mich für das Interesse an unserer Musik. Insofern möchte ich die Gelegenheit nutzen und diejenigen Leute ansprechen, die mit mir einig sind, dass die heutige Musiklandschaft mehr Abwechslung, mehr Mut zum Ungewöhnlichen und weniger Schubladendenken benötigen würde. Nucleus Torn versucht, Impulse zu geben, um aus dieser Sackgasse herauszufinden.

www.nucleustorn.ch
http://www.myspace.com/nucleustornband

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