Neil Gaiman Interview

Mal etwas anderes: Das Eternity wirft für euch einen Blick in die weite Welt der Comics, genauer gesagt in das Universum des Engländers Neil Gaiman, dessen ‚Sandman’ der amerikanischen Comicszene seit über 10 Jahren die schönsten (Alp-)Träume beschert.

Es beginnt im Jahre 1916 in Wych Cross, England, wie eine klassische okkulte Horrorgeschichte im Stile H. P. Lovecrafts: Roderick Burgess hat sich der Schwarzen Magie verschrieben und eine Anzahl Jünger um sich geschart, um mit ihnen den Tod selbst zu beschwören und gefangen zu nehmen um die Grenzen seiner kurzen Lebensspanne zu überwinden. Die Zeremonie in seinem Landhaus ist tatsächlich von Erfolg gekrönt – im Bannkreis liegt ein junger Mann mit bleicher Haut, nachtschwarzem Haar und einem blauen Glanz in den Augen. Leider handelt es sich bei dem Gefangenen nicht um den Tod, sonder um dessen kleinen Bruder Dream bzw. Morpheus bzw. den Sandman, Herr der Träume und Geschichten.

In Wahrheit beginnt die Geschichte erst 1988, aber immerhin in England. Dem Sandman gelingt die Flucht aus seinem gläsernen Käfig, er nimmt Rache an Alexander Burgess, dem Sohn seines Peinigers und macht sich daran, das Traumreich wieder in Besitz zu nehmen. Bevor es allerdings soweit ist, bekommt Neil Gaiman, seines Zeichens angesehener Autor fantastischer Geschichten und waschechter Engländer, einen Anruf aus Amerika. Karen Berger, Redakteurin bei DC (dem Verlag, bei dem Superman und Batman zu Hause sind) fragt Gaiman, ob er Interesse hat, eine monatliche Comic-Serie zu schreiben. Gaiman willigt spontan ein und beginnt sich Gedanken über das Wesen des Protagonisten zu machen. Da ihn die Idee reizt, seine Geschichten teilweise in Träumen spielen zu lassen, beschließt er, einen alten DC-Charakter aus den 40er Jahren zu reanimieren, den Sandman, der nachts durch die Stadt streifte, um Verbrecher mit Gas zu betäuben und somit bis zum Morgen unschädlich zu machen. Auf anraten Karen Bergers entwickelt er die Idee solange weiter, bis sein Held mit dem alten Sandman außer dem Namen nichts mehr gemein hat. Er ist eine originäre Figur geworden, beispiellos in der Comicwelt und er wird großen Einfluß auf den amerikanischen Mainstream-Comic der 90er Jahre haben.

Wer ist dieser „neue“ Sandman? Zunächst ist er um einiges Älter als der „alte,“ Millionen Jahre alt, in jedem Falle älter als die Menschheit und unsere junge Welt. Er ist zusammen mit seinen recht unterschiedlichen Geschwistern Destiny, Death, Desire, Despair und Delirium (die einst Delight war) einer der Ewigen, die die Antriebsfedern allen Lebens darstellen. Er residiert im reich der Träumein seinem Palast. Mit ihm bewohnen sein Land sämtliche Sagengestalten, Orte, Götter und Geschichten, die je ein Mensch erdacht bzw. erträumt hat. Einige seiner engsten Vertrauten leben hier, sein Gärtner Lucien, der Rabe Matthew, der früher einmal ein Mensch war, sowie Kain und sein armer Bruder, der Tag für Tag aufs neue ermordet wird. Die Insignien der Macht des Traumkönigs sind ein Beutel mit Traumsand, ein mit einem Rubin versehenes Amulett und ein Helm, dessen Form an eine Gasmaske erinnert (vermutlich eine Referenz an den 40er-Jahre-Sandman,der immer mit einem ähnlichen Kopfschmuck sein Gesicht verbarg. Ansonsten hüllt sich Morpheus gern in Schwarz (ähnlich wie sein Autor Gaiman) und erinnert, wenn er seinen Helm nicht trägt zum Teil frappierend an Robert Smith, Sänger der Band The Cure.

Der Clou an Gaimans Sandman-Figur ist, dass sie ihm beim entwickeln seiner Geschichten größtmöglichen Spielraum lässt. Neben den Stories, die sich ausschließlich mit den Belangen des Sandmans und seiner Sippschaft befassen, gibt es Episoden, in denen Sterbliche die Hauptrolle spielen, die mit ihren ganz eigen, zum Teil sehr realen Träumen und Alpträumen zu kämpfen haben und in denen der Herr der Träume eher als vermittelnde, klärende oder bestrafende Nebenfigur agiert. Die meisten der längeren Geschichten sind eine Mischung aus beidem und in den meisten Fällen konfrontieren sie ihre menschlichen Protagonisten mit wahrhaft alptraumhaften Szenarien, in denen Realität und Traumwelt bruchlos ineinander übergehen. So sucht in der „Doll House“-Serie (Dt. „Das Puppenhaus“+ „Verlorene Herzen“) eine junge Frau ihren kleinen Bruder, der, von seinen Pflegeeltern misshandelt und im Keller wie ein Tier gehalten, sich von den Träumen losgelöst und in eine eigene, autarke Traumwelt zurückgezogen hat. Mit seiner Befreiung aus dieser Isolation durch den Sandman gelingt ihm auch die Flucht aus dem Haus der Pflegeeltern. Auf der Straße liest ihn, vom Regen in die Traufe, der Korinther auf – ein während der Gefangenschaft des Sandmans in die Realität entflohener Alptraum – und nimmt ihn im Kofferraum mit in ein Motel, in dem gerade all die Wahnsinnigen Massenmörder Amerikas einen Kongress halten. Zufällig hat sich auch die Schwester des Jungen hier einquartiert und einer der Teilnehmer der Tagung hat auch schon ein Auge auf sie geworfen… was vielleicht am ehesten wie eine obskure Mischung aus einem Davids-Lynch-Film und Rotkäppchen klingt, ist nur ein Glanzlicht von vielen in der an Höhepunkten nicht armen Sandman-Saga.
In anderen Geschichten sucht Morpheus die Träume von Kaiser Augustus und William Shakespeare heim, bekommt es mit Satyren und Werwölfen zu tun und muß in der „Season of the Mist“-Serie (DT. „Die Zeit des Nebels“ + „Für abwesende Freunde“) über Gedeih und Verderb der Hölle entscheiden, nachdem Luzifer den Job geschmissen und ihm den Schlüssel zum „reizvollsten Stück psychischen Grundbesitzes in der Ordnung aller Dinge“ ( O-Ton Death, des Sandmans große Schwester) überreicht hat.

Neil Gaimans überbordene, anspielungsreiche, makabere und nicht selten auch witzige Phantasie-gespinste schlugen in Amerika ein wie eine Bombe. Nachdem ein äußerst wohlwollender Artikel im Rolling Stone Magazine und lobende Äußerungen von Seiten so namhafter Horrorautoren wie Stephen King und Clive Barker heftig die Trommel für den neuen Helden bei DC gerührt hatten, wurde „Sandman“ nach nur wenigen Ausgaben zur absoluten Kultserie, die inzwischen zu einem nahezu unentwirrbaren Wust von Kurzgeschichten, Handlungssträngen, Protagonisten und Spin-Off-Serien angewachsen ist. Im Laufe der Jahre haben sich viele große Zeichner im Sandman verewigt: Matt Wagner, Chris Bachalo, Marc Hempel, der damals noch unbekannte Kelly Jones, und natürlich allen voran der brillante Dave McKean, dessen mysteriöse, bisweilen beunruhigende Covers die Serie vom ersten Heft an begleiteten.

Und noch eine Leistung muß man dem Sandman zugute halten: Sein Erfolg sorgte dafür, das DC Anfang der 90er Jahre ein Label für „anspruchsvolle“ Comics gründete: Vertigo. Bei diesem Label erschienen und erscheinen neben „Sandman“ weitere Perlen der Comicwelt, wie „Die Bücher der Magie“, „Hellblazer“, „Scene of the Crime“, „Transmetropolitan“ und der auch hierzulande recht erfolgreiche „Preacher.“

(Neben den Comics ist noch reichlich Material im Internet zu finden. Einfach mal in die Suchmaschine „Neil Gaiman“ oder „Dave McKean“ eingeben.)

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*