V.A. „Wenn kaputt dann wir Spaß – Berlin Punk Rock 1977“

Weird System
Bewertung: Ohne Wertung
Spielzeit: 97:36
Songs: 0

Soll ich jetzt, oder soll ich nicht? Im Grunde fehlen mir für diese Rezi ja sämtliche Voraussetzungen: erstens bin icke keen Berliner und zweitens ist Punkrock nicht wirklich mein Metier. Klar, die SEX PISTELS, die RAMONES, THE CLASH, die kennt man auch als Metaller. Aber sonst? Die ÄRZTE sind ganz okay, aber das ist wohl mehr Pop- als Punkrock. Auf der anderen Seite ist diese Doppel-CD hier eine so sorgfältig und exzellent gemachte Kompilation, die es einfach verdient, allen Interessierten näher gebracht zu werden, wenn auch aus unberufenem Mund. Worum geht’s also? Es geht, wie der Titel bereits sagt, um die Punkszene in der Hauptstadt. 44 Berliner Bands erzählen die Geschichte der 80er Jahre, aus einer für Metaller recht ungewohnten Sicht. Von den bescheidenen Anfängen im Winter 1976/77 bis zum abrupten Ende kurz vor der deutschen Wiedervereinigung, „als zu viele Leute plötzlich anfingen, GUNS ‚N‘ ROSES gut zu finden.“
Die Westberliner Mauer-Oase, war einerseits empfänglicher als jede andere deutsche Stadt für amerikanisch-englische Musik- und Modetrends, andererseits ein einzigartiges Biotop aus Faulenzern, „Lebenskünstlern“, Aussteigern, Hausbesetzern und Wehrdienstverweigerern. So wundert es nicht weiter, dass der Lifestyle, wie ihn IGGY POP, DAVID BOWIE, MC5, die RAMONES und die SEX PISTELS verkörperten, hier auf besonders fruchtbaren Boden fiel. Die Bands der ersten Punk-Welle (bis ca. 1979), PVC, FFURS, TEMPO, das was später die „Schöneberger Punkszene“ genannt wurde, kamen folglich über reinen Kopistenstatus kaum hinaus. Das sollte sich jedoch schnell ändern! „Wir befinden uns im tiefsten Kreuzberg, im unmittelbaren Schatten der Mauer. K-36 Ende der 70er, das ist ein heruntergekommener, zerfallender, von Senat und Medien vergessener Teil der Riesenstadt“ (Ox-Fanzine 49). Eine links-autonome, antifaschistische Anarcho-Punk Szene entwickelt sich, die mit den angelsächsischen Vorbildern und den „Schönebergern“ nicht mehr viel gemein hat. KATAPULT, AUSWURF, die BETON COMBO, STROMSPERRE. „Punk als Fortsetzung von politischem Kampf mit anderen Mitteln.“ Weniger dogmatisch ging es in den Vororten zu: aus Spandau kamen die MALINHEADS, NACHDRUCK und Fun-Punk Gruppen wie SOILENT GRÜN, später die ÄRZTE. Aus Hermsdorf FRAU SUURBIER und aus dem Märkischen Viertel kamen Skate-Punker wie die DISASTER AREA.
Wußtet ihr, dass Karl Walterbach, der mit seinem Noise-Label einen nicht unerheblichen Teil der deutschen Thrash Metal Geschichte mitgeschrieben hat, als politisch engagierter Anarcho-Punk in Kreuzberg unterwegs war und sogar ein Punk-Label am Start hatte, lange bevor er Mitte der 80er zum Metal konvertierte? Wußtet ihr, dass als unmittelbare Folge von Punk im Sommer 1978 einer von Deutschlands legendärsten Konzertschuppen in der Oranienstraße seine Pforten öffnete (Unvergessen hier mein erstes Hauptstadt-Konzert, Napalm Death kurz nach der Wende, wo auf die zugegebenermaßen ziemlich dämliche Frage, wo denn die Garderobe sei, der halbe Laden sich schier totgelacht hat.)?
Die dritte (und letzte) Punk-Welle, das waren die Berlin Hardcore-Jahre. „Die Hardcore-Ära umfasst ab 1982 im Prinzip den ganzen Rest der 80er und ist in vieler Hinsicht bis heute die offenste und lockerste Phase in der gesamten Berlin-Punk-History.“ (Ox-Fanzine 49) Ihre Protagonisten hießen VORKRIEGSJUGEND (VKJ), ZERSTÖRTE JUGEND, CERESIT, VELLOCET, NO ALLEGIANCE, SM-70, MANSON YOUTH, MARPLOTS, COMBAT NOT CONFORM,…usf. Metallern/Rockern dürfte auch der Name JINGO DE LUNCH was sagen.
Abschließend wird mit 4 Tracks auch noch der Ostberliner Punkszene gehuldigt. Vertreten sind PLANLOS, EINZELHAFT, NAMENLOS und WARTBURGS FÜR WALTER. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang finde ich die negative und abwertende Beurteilung von FEELING B., aus denen nach der Wende RAMMSTEIN hervorgingen und die ich bislang für die Vorzeige-Ossipunks gehalten habe. Der Band wird vorgeworfen, sich opportunistisch bei der Staatsmacht angebiedert zu haben, da man eine sogenannte „Einstufung“ als (Berufs-) Musiker anstrebte (und auch bekam), um so, neben weiteren Privilegien, mit anderen „Hofmusikanten“ wie CITY oder SILLY auf Tour gehen zu können. Folgerichtig sind sie auf dieser Kompilation auch nicht vertreten. Privilegierte „Staatspunks“, in der Tat schlechte Voraussetzungen für ’ne anständige „Street Credibility“ nach der Wende (Ich mag das jetzt nicht bewerten, möchte aber darauf hinweisen, dass beispielsweise die Ostler beim Rock Hard zu dem Thema eine etwas differenziertere Sichtweise haben.). Als weitere erstaunliche Tatsache erfährt man, dass im Osten Punks und „Glatzen“ nicht allzu weit auseinander lagen, die Übergänge geradezu fließend waren. Der sich in der Nachwendezeit in Mitteldeutschland rasant ausbreitende Rechtsradikalismus als Reaktion auf einen autoritären, real existierenden Sozialisten-Staat findet sein Äquivalent in linksextremen Westberliner Chaoten-Zirkeln, die sich gegen den „Bullenstaat“ warm brüllen. Und ob rechte Skins im Osten jetzt wirklich radikaler sind als linke Autonome und Antifa-Gruppen im Westen ist wohl in erster Linie eine Frage der medialen Wahrnehmung.
So, jetzt habe ich doch ‘ne ganze Menge geschrieben zu dem Thema. Das meiste davon stammt aus dem 99(!)-seitigen Booklet, das vollgestopft ist mit Hintergrund-Infos, Interviews und einer über diese Kompilation weit hinausgehende Berlin-Punk-Diskographie. Einfach grandios, was Weird System hier auf die Beine gestellt haben. Ein durch und durch stimmiges Produkt, wenn ich mich auch über die musikalische Qualität des Dargebotenen als Metaller nicht weiter auslassen möchte. Punkrock und Hardcore halt. Für musikhistorisch Interessierte jedenfalls ist „Wenn kaputt dann wir Spaß“ ein Muß. Auch (oder gerade auch) für Nicht-Berliner! Eine wahre Fundgrube über eine der beiden großen extremen Jugendkulturen, welche die Spätsiebziger und die 80er Jahre hervorgebracht haben. Das Teil gibt es übrigens limitiert als richtig schicke Doppel-LP. Wenn ihr auf den üblichen Kanälen nicht fündig werdet, wendet euch direkt an die Plattenfirma: www.WeirdSystem.de.

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